Catcalls

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foreword In vielen Großstädten der Welt tauchen bunte Kreidetexte auf. Sie weisen auf sogenannte Catcalls hin. Das ist ein Modewort für dumme Anmachsprüche.

Die Palette der verbalen Entgleisungen ist so bunt wie die Kreide, mit der sie auf die Gehwege, Fußgängerzonen und Plätze gemalt werden. Sie sind arg verdichtet und gekürzt, um prägnant zu wirken. Es entstellt sie aber häufig. Als Überschrift eines Blog-Artikels würde ich sie mit dem Modewort Click-Bait werten. Am meisten amüsierte ich mich über »...er fuhr mir minutenlang mit dem Fahrrad hinterher«.

Man weiß nichts über den Kontext der Handlung und ebenso gar nichts über den Wahrheitsgehalt. Ich will keinesfalls dummen Anmachsprüche relativieren. Es gab sie schon immer, was macht es nicht besser und auch nicht richtig macht. Was soll ich als Rezipient mit den Kreidebotschaften anfange? Warum ist es schlimm, dass ein Verfolger immer schlechtes will? Ich folgte auch schon unbeleuchteten Fahrrädern mit dem meinen, damit mein Licht sie vor dem Unfall schützt. Man könnte auch einen herabgefallenen Schal oder verlorene Einkäufe hinterherbringen.

Vielleicht hat der hinter mir – ich werde auch auf dem Rad verfolgt – nur zufällig denselben Weg? Muss man sich nun schlecht fühlen oder gleich in die Verteidigung geht, nur weil man der zweite hinter einem ersten ist? So ein Pranger wird eines nämlich ganz sicher nicht tun: die dummen Anmachen beenden. Den knappen Kreidesprüchen fehlt auch die klare Botschaft. Nachrichten-theoretisch wurde zwar mit unterstelltem Protokoll eine Unkenntnis beseitigt. Aber was soll geändert werden?

Ich stand schon auf einem Bahnsteig im Pendlerverkehr und zwei junge Frauen riefen sich lautstark Sätze zu, die mit harten Schimpfworten als Kosename für die jeweils andere begannen. Sehr häufig kamen dabei Hu*e oder Fo**e zum Einsatz. Eine der beiden fragte mich, als sie den Bahnsteig entlang auf meiner Höhe war, ob ich etwas Kleingeld für den Automaten hätte. Ich fragte zurück, ob sie die sei, die Hu*e oder Fo**e genannt werden will. Sie quittierte es mit einem Augenrollen und ging weiter. Die paar Münzen hätte ich ihr auch gegeben, aber ich war der falsche Sender der Botschaft und auch der falsche Empfänger. Das Konzept des Ethno- oder Soziolektes verkennen die Kritiker der Catcalls.

Keinen der Sexisten will ich in Schutz nehmen. Aber meist fehlt dem prolligen Durchschnittsbrüller was sich so viele Frauen wünschen: Intelligenz gepaart mit Humor. Unter den Männern sind die Brüller auch eine seltene Untergruppe. Aber aufgrund ihrer Lautstärke und Rezeption nun mal ein billiger Fingerzeig. Die beste Band der Welt sang schon von der alten rostigen Heckenschere und heizt dem Publikum ein mit »...runter mit dem Männlichkeitswahn!« Diskurs ist der Aktionismus mit Kreide keiner. Es trifft ja nur die, die Lesen und denken können. Vielleicht wäre #Amazonenhorde das bessere Hash-Tag. Die Zeiten der konkreten Aktion a la Sixtn oder Antifuchs den Luden mal kräftig mit den Pumps auf den Nüssen zu tanzen sind wohl Wünsche in Form von Sprechgesang. Und selbst die bedienen nur ein kommerziell erfolgreiches Klischee.

Was können wir also tun? Es gibt das Heimwegtelefon[1], wenn zur Bildung einer Gruppe das Menschenmaterial fehlt. Jeder vernunftbegabte Mensch wird auch hofffentlich früher als später das Toleranzparadoxon (Poppers)[2] erkennen. Falls nicht, ist es mit dem Denken und der Berücksichtigung der Folgen der Meinungsmache im öffentlichen Raum nur Einbahnstraße in die pop-moderne Cancel-Kultur. Es gibt nämlich neben den Männern mit Ohrring auf der femininen Seite auch solche mit noch buntere Ansichten. Schließlich ist es einem arabischen Sprichwort zu Folge auch besser, sich Schuhe anzuziehen, als die ganze Welt mit Teppich auszulegen.

  1. heimwegtelefon.de – eingetragener Verein
  2. Poppers Paradoxon – Wikipedia